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14. September 2023 | Altes Rathaus, Hannover | Martin Rauch

„Lehm verbindet“

Im voll besetzten Festsaal des Alten Rathauses erklärt der Pionier des Lehmbaus, warum es unbequem ist, mit Lehm zu planen und was es mit der kalkulierten Erosion auf sich hat. Seinem Vortrag voraus geht eine sehr herzliche Einführung durch den Stiftungsvorsitzenden Robert Marlow, der sich überaus glücklich schätzt, Martin Rauch in Hannover begrüßen zu dürfen. Marlow berichtet vom Stadtspaziergang mit dem Referenten am Nachmittag, dem er die Stadt zunächst von oben (Schrägaufzug Neues Rathaus, Stadtmodelle) und später entlang der Leine (Hohes Ufer) und durch die Altstadt (mit „aufhof“) nähergebracht hat. Dabei lässt das älteste der Stadtmodelle im Neuen Rathaus von 1689 erahnen, dass auch in Hannover mit Lehm gebaut wurde. Lehmbau ist baukulturelles Erbe.

„Wir brauchen eine Wende: Wenn wir unser Hirn einschalten und mutig sind, können wir diese Wende schaffen!“ So beginnt Martin Rauch seinen Vortrag, zu dem die Lavesstiftung ihn eingeladen hatte und mit ihm die Reihe der Vorträge zur Bauwende nach Hans Joachim Schellnhuber, Anna Heringer und Jette Hopp fortsetzt. Rauch gründet sein ganzes Vertrauen auf einen Baustoff, mit dem die Menschheit seit Jahrtausenden ihre Gebäude errichtet: Hütten und Paläste, ganze Städte. Seit 1984 baut der 1958 in Vorarlberg geborene Rauch mit diesem archaischen Material, zu dem er allerdings nicht über die Architektur, sondern über seine Ausbildung und erste Arbeiten als Keramiker, Ofenbauer und Bildhauer kam. Sein Büro trägt den Namen „Lehm Ton Erde“, diese drei Worte haben für ihn symbolischen Charakter und beschreiben die ganzheitliche Philosophie seiner Arbeit: „LEHM steht für Handwerk, TON für künstlerische Gestaltung, und ERDE für Ökologie und Nachhaltigkeit“, erklärt Rauch. Kein anderer Baustoff vereine diese drei Aspekte in gleicher Weise wie Lehm: Die Erde unter dem Haus sei Fundament und Baustoff zugleich, und der ökologische Fußabdruck damit minimal.

Viele seiner Projekte verwirklichte Rauch in enger Zusammenarbeit mit Architekten in Stampflehmtechnik – einem Verfahren, in dem das Material nicht nachträglich verkleidet oder geschönt wird – so zum Beispiel die Kapelle der Versöhnung in Berlin an der Bernauer Straße. „Ein sehr aufwendiges Verfahren, mit hohem Einsatz an menschlicher Arbeitskraft“, so seine Erfahrung. Doch gerade diese gemeinsame, körperliche Arbeit an einem Projekt verbinde die beteiligten Menschen in besonderer Weise miteinander, mehr als andere Baustoffe, weiß Rauch. Lehm sei damit in seinen Augen der sozialste Baustoff, der im Prinzip ganz und gar ohne Maschinen verbaut werden könne. Bei größeren Projekten, die im Lauf der Jahre folgten, kam dieses Prinzip jedoch an seine Grenzen, und es kamen Maschinen zum Einsatz, die Rauch mit seinem Team je nach Bauaufgabe selbst entwickelt und herstellt. Eine ganze Halle mit Maschinen zur Herstellung von vorgefertigten Lehmbaumodulen ist daraus entstanden. Weitere dezentrale Produktionswerkstätten folgten, die jeweils in unmittelbarer Nähe neuer Bauprojekte eingerichtet wurden, um mehrstöckige Gebäude und Gewerbebauten zu realisieren, wie zum Beispiel das Ricola Kräuterzentrum in der Schweiz.

„In unserer Arbeit stecken viel Forschung und Entwicklung. Gerade hier in Europa und besonders in Deutschland ist es wichtig, alles mit Zahlen und Daten zu belegen, um zu beweisen, dass der Lehm auch wirklich ein tragfähiger und solider Baustoff ist“, weiß Rauch und konstatiert: „Wir haben noch zu wenig Vertrauen in Lehm“. Und außerdem gebe es noch ein anderes, eher psychologisches Problem: „Ich nenne es die kalkulierte Erosion: Werden die zur Wetterseite hin ausgerichteten Flächen nicht verputzt oder verkleidet, dann waschen sie sich nach und nach aus. Diesen Effekt sehen viele nicht so gern.“ Rauch empfiehlt daher, „den Perfektionismus neu zu denken und Gelassenheit zu lernen.“ Eine Herausforderung! Trotzdem habe er mittlerweile auch in Deutschland viel zu tun, berichtet Rauch, auch wenn die Genehmigung der Projekte häufig nur durch Einzelfall-Zulassungen erwirkt werden könnte – so geschehen beim Campus St. Michael, den Rauch gemeinsam mit seiner Schülerin, der Architektin Anna Heringer, derzeit in Traunstein realisiert. Auch in Detmold bereitet Rauch gerade den Einsatz von Lehmbaumodulen vor: Dort errichtet er in Zusammenarbeit mit dem Büro ACMS Architekten GmbH aus Wuppertal das LWL-Freilichtmuseum – ein Gebäudeensemble, dessen tragende und aussteifende und bis zu 8 Meter hohen Innenwände aus Stampflehm bestehen werden. Zum Materialmix gehören hier neben Holz auch Glas und Beton, ein Baustoff, den Rauch keineswegs ablehnt – wie man vielleicht vermutet hätte – im Gegenteil: „Beton ist ein tolles Material, wenn es an den richtigen Stellen gut dosiert eingesetzt wird.“ Doch es komme leider allzu häufig zum Einsatz von Beton, was vor allem der starken Lobbyarbeit und den unangemessen niedrigen Kosten geschuldet sei, so Rauch und stellt fest: „Hier stimmt einfach die Kostenwirklichkeit nicht.“ Ein Fakt, gegen den sich nur politisch etwas bewirken lasse.

Martin Rauch ist sich sicher: Jedes seiner bisher verwirklichten Projekte sei ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Wende, jedes sei ein Erkenntnisgewinn, jedes der Beweis, „dass es geht“: Motivation für und Appell an die gesamte Architektenschaft, sich an das Bauen mit Lehm heranzutrauen und die Vorbehalte hinter sich zu lassen. „Es ist wie bei der Akupunktur: kleine Nadelstiche an den entscheidenden Stellen können sehr effektiv sein, wenn sie richtig gesetzt sind.“ Natürlich stehe die Welt angesichts der Klimakatastrophe enorm unter Zeitdruck, doch könne Lehm ein Gamechanger sein: „Wir haben 10 Generationen gebraucht, um den Umgang mit diesem ursprünglichen Baustoff zu verlernen, jetzt haben wir eine halbe Generation Zeit, um ihn wieder aufleben zu lassen.“

Beim Gespräch mit der Architekturjournalistin Kerstin Kuhnekath zum Abschluss des Vortragsabends ist er trotzdem zuversichtlich: „Ich habe die Vision, dass in 50 Jahren die Hälfte der Menschheit in Lehmbauten wohnen wird.“ Um das zu erreichen, sei es wichtig, Fachkräfte auszubilden und den handwerklichen Nachwuchs zu schulen. Vor allem sei es wichtig, die Produktion von Lehmbaustoffen voranzutreiben, um so die Kosten zu senken und neben anderen Baustoffen konkurrenzfähig zu werden. „Es ist im Grund widersinnig, aber momentan ist das Bauen mit Lehm in Europa ein Luxus. Das wird sich ändern – müssen...“ Viel Beifall am Ende dieses Abends – und ein herzlicher Dank von Kammerpräsident Robert Marlow, der vor allem den Appell an die Politik in seiner Verantwortung sieht.

Fotos: Kai-Uwe Knoth