Gesellschaftliche und politische Umbrüche, Fortschrittsglauben und Ideale, aber auch Angst und Unsicherheit prägen die Zeit „zwischen Nierentisch und Postmoderne“, wie der Architekturkritiker Wolfgang Kil die 1960er und 70er Jahre einmal treffend bezeichnet hat. Insbesondere in der Architektur zeigte sich der Aufbruch: Bauboom und technischer Fortschritt bewirkten eine wahre Zukunftseuphorie und Experimentierfreudigkeit.
Mittlerweile erweist sich der zeitgenössische Baubestand jedoch vielerorts als Belastung, gelten die Gebäude und Anlagen der Zeit als teure Sanierungsfälle. Zukunftsweisende Lösungen für die behutsame Weiterentwicklung und Anpassung des Bestands an heutige Anforderungen sind gefragt. Grund genug, sich ohne Vorurteile mit einem baukulturellen Erbe zu beschäftigen, das massenhaft das Land prägt, aber immer noch viel zu oft pauschal als minderwertig abgetan wird.
Mit einem umfassenden Katalogteil und fundierten Beiträgen zu wichtigen Themen der Zeit sensibilisiert dieses Buch für die Vorzüge einer kreativen und wagemutigen Architektur. Das einmalige Grundlagenwerk soll zur öffentlichen Diskussion anregen und damit zu Wertschätzung und Erhalt der 1960er- und 70er-Jahre-Architektur in Niedersachsen beitragen.
Aufbruch. Architektur in Niedersachsen 1960 bis 1980
Lavesstiftung (Hg.)
Hardcover
21 x 28 cm
200 Seiten, ca. 300 farb. und s/w Abb.
Deutsch
ISBN 978-3-86859-471-3
07.2017
38.00 €
2007 wurde eine „Vorschlagsliste zu schützenswerten Bauten und Anlagen der 1960er- und 1970er-Jahre in Niedersachsen“ erarbeitet. Die Architektur der Zeit sollte damit in den Fokus und ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Die rund 700 Objekte umfassende Liste wurde von einer Projektgruppe der Architektenkammer unter Leitung des damaligen Vizepräsidenten Gregor Angelis erstellt und dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege übergeben – als Anregung, die Objekte auf ihre Denkmalwürdigkeit zu überprüfen.
2009–2010 folgte die von der Architektenkammer Niedersachsen konzipierte Wanderausstellung „Wiedersehen. Architektur in Niedersachsen zwischen Nierentisch und Postmoderne“. Diese präsentierte 35 Architekturobjekte verschiedener Baugattungen und unterschiedlicher Regionen Niedersachsens. Alle beteiligten Projekte standen – zum Zeitpunkt der Ausstellung jedenfalls – nicht unter Denkmalschutz. Für zunächst drei bis vier Standorte konzipiert, konnte die Wanderausstellung schließlich an neun Stationen landesweit gezeigt werden. Ganz offensichtlich hatte das Projekt den „Nerv der Zeit“ getroffen. Die in der Folgezeit in Gang gekommene, verstärkte Diskussion zur Frage der Denkmalwürdigkeit führte dazu, dass einige der in der Ausstellung vertretenen Projekte inzwischen im Verzeichnis der Baudenkmale in Niedersachsen stehen.
Folgende Objekte aus der Wanderausstellung stehen inzwischen unter Denkmalschutz: Hochschule für Musik und Theater (Hannover), Kindertagesstätte Sylter Weg (Hannover) – beides Bauten des hannoverschen Architekten Prof. Rolf Ramcke, Städtische Galerie KUBUS (Hannover) von Architekt Alfred Müller-Hoeppe sowie die Kirchenbauten St. Raphael mit Gemeindezentrum (Wolfsburg) der Architekten Toni Hermann, Kleve / Hannes Hermanns, Kleve/Köln und Peter Thomas Koller als weiterer Beteiligter und die Gerhard-Uhlhorn-Kirche (Hannover) von Reinhard Riemerschmid.
Fotos: Olaf Mahlstedt