30. März 2023 | Altes Rathaus, Hannover | Dr. Turit Fröbe
Die Bausünden-Sammlerin Dr. Turit Fröbe zu Gast bei Architektur im Dialog.
Turit Fröbe liebt Bausünden, sammelt und veröffentlicht sie in den sogenannten „Abrisskalendern“. Wie ein offener Blick auf die gebaute Umwelt unsere Städte trotz – oder gerade wegen – dieser gebauten Fehlstellen aufwerten kann, erklärte die Architekturhistorikerin den mehr als 200 Zuhörenden am 30. März 2023 bei Architektur im Dialog im Alten Rathaus in Hannover. Zuvor hatte Kammerpräsident Robert Marlow sie zu einem Stadtspaziergang eingeladen, um einen Blick auf die neuralgischen Stellen in Hannovers Innenstadt zu werfen. Wider Erwarten war für die Bausünden-Expertin jedoch wenig Nennenswertes dabei, das in einen ihrer Abrisskalender hätte Einzug finden können.
Denn: „Alles ist interessant und betrachtenswert!“ – das ist das Credo von Turit Fröbe. Die promovierte Architekturhistorikerin und Urbanistin, die sich seit Jahren der baukulturellen Bildung verschrieben hat, ist davon überzeugt, dass das Schlimmste, was man der gebauten Umwelt antun kann, ist, diese nur im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln wahrzunehmen. Denn selbst die verhassteste Bausünde entwickelt bei genauerer Betrachtung oft einen eigenwilligen Charme und eine ureigene Schönheit.
„Gute Bausünden erzählen eine Geschichte, sie stiften Identität – ja, sie tragen häufig sogar Kosenamen,“ berichtet Fröbe, die sich seit dem Jahr 2001 intensiv und leidenschaftlich all den Bauten widmet, die in unserer Gesellschaft, und vor allem in Fachkreisen, ein Schattendasein fristen. Und das völlig zu Unrecht, findet Fröbe: „Denn genau diese Bausünden verraten viel mehr über unsere Städte und über uns selbst als andere Baukunst.“
Genau deshalb sollte man genauer hinsehen – und zwar mit einem liebevollen Blick, nicht von oben herab, sondern neugierig und wertschätzend. Denn dann fangen die Gebäude tatsächlich an zu sprechen, sagt Fröbe: „Sie erzählen, was sie eigentlich in Wirklichkeit sein wollen, wo sie gern lieber wären und verraten viel über ihre Besitzer, deren Träume und Hobbies.“ Bei schlechten Bausünden, die es auch ab und zu gebe, sei das anders, erklärt Fröbe: „Sie bleiben stumm, gesichtslos, auch bei langem Hinsehen, sie sind austauschbar, langweilig und banal. Sie sind es, die unsere Städte verschandeln.“ Und sie konstatiert nüchtern: „Wenn gute Bausünden aus der Vergangenheit abgerissen werden, ersetzt man sie heute meist durch schlechte.“
Liebevoller Blick
Bei Spaziergängen mit dem Team ihres Büros DIE STADTDENKEREI zeigt Turit Fröbe den Bewohnern einer Stadt oder eines Quartiers, wie es geht, wirklich aufmerksam und liebevoll hinzusehen: „Wir spielen jetzt mal, das hier schön zu finden“, sagt sie dann. „Wie wäre es, wenn dieses Gebäude eine berühmte Sehenswürdigkeit wäre? Wo würde sie stehen? Wer hätte sie erbaut?“ Mit diesen Fragen entstehe eine spielerische, ja geradezu euphorische Atmosphäre, weiß Fröbe. „Die Leute gehen dann beschwingt und glücklich nach Hause.“ Auf diese Weise lasse sich die Wahrnehmung für die gebaute Umwelt so ändern, dass sogar das bisher Verhasste zu einem integralen Bestandteil des Stadtgefüges und damit ganz anders angenommen werde.
Die STADTDENKEREI hat bereits mehrere Spiele konzipiert, die diese wohlwollende Aufmerksamkeit und den liebevollen Blick schulen – und das nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Kindern und Jugendlichen. Beim an den Vortrag anschließenden Gespräch mit Kammerpräsident Robert Marlow plädiert die STADTDENKERIN Turit Fröbe dafür, schon die Kleinsten in diese Kultur des bewussten und wertschätzenden Hinschauens einzuführen, denn bisher sei es eher Glückssache, ob junge Menschen mit baukultureller Bildung in Berührung kämen, die über historische Betrachtung und Einordnung hinausgehe. „Hier ist eine neue Strategie gefragt, bei der vor allem die Lehrkräfte mit eingebunden werden müssen,“ so Robert Marlow: „Ganz klar ein Auftrag an die Lavesstiftung und unser Projekt „Architektur macht Schule“, bei dem wir mit den Lehrerfortbildungen genau diese Zielrichtung verfolgen!“
Fotos: Henning Scheffen